BGH, Urteil vom 15.04.2014 - VI ZR 382/12
Im vorliegenden Fall begehrte die Klägerin Schadensersatz wegen einer fehlerhaften Behandlung während ihrer Geburt. Die Klägerin warf der Beklagten zu 1) vor, dass diese die Behandlung ihrer Mutter als Risikoschwangere übernommen und sie nicht in ein Perinatalzentrum verlegt hat.
Der BGH urteilte, dass der Klägerin keine Schadensersatzansprüche zustehen.
Die Übernahme der Behandlung der Mutter der Klägerin kann nur dann als Behandlungsfehler qualifiziert werden, wenn sie dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderlief.
Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat
Zum Geburtszeitpunkt gab es noch keinen medizinischen Standard, der die Verlegung von Risikoschwangeren in ein Perinatalzentrum gefordert habe, da es aus medizinischer Sicht keine Einigkeit darüber gab.
Es wurden lediglich kurz nach der Behandlung der Mutter der Klägerin im November 1995 Leitlinien der einschlägigen geburtsmedizinischen Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, veröffentlicht, aus denen klar hervor geht, dass die Konsensbildung darüber noch nicht abgeschlossen sei.
Darüber hinaus dürfen Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten.